http://www.nzz.ch/aktuell/schweiz/die-oeffentlichen-schulen-sollten-die-kurse-uebernehmen-1.17729470
«Die
öffentlichen Schulen sollten die Kurse übernehmen»
Der Präsident der Migrationskommission fordert, dass der Staat Migranten in
ihrer Muttersprache unterrichtet. Er wünscht sich mehr Lehrer ausländischer
Herkunft
NZZaS - Schweiz -
Dossier: Migration (28.10.2012)
Walter Leimgruber warnt vor dem Aus des Sprachunterrichts für Ausländer. Er
verlangt, dass die Schulen das Angebotübernehmen und es für allezugänglich machen.
Interview: Daniel Friedli
NZZ am Sonntag: Der Unterricht für Ausländer in
heimatlicher Sprache und Kultur ist gefährdet. Wie sehen Sie die Situation?
Walter Leimgruber: Aus Sicht
der Integration ist das gefährlich. Ein gute Ausbildung in der Muttersprache
ist essenziell, die haben wir Schweizer auch. Fällt sie weg, ist mit mehr
Kindern zu rechnen, die Lernschwierigkeiten haben und folglich Probleme an der
Schule und auch im Deutschunterricht. Das kann uns nicht egal sein.
Wie lässt sich das ändern?
Die öffentlichen Schulen
sollten die Kurse übernehmen und selber anbieten. So wäre dieser wichtige
Sprachunterricht garantiert. Gleichzeitig könnte man besser kontrollieren, dass
die Qualität stimmt und keine Ideologien gelehrt werden.
Wie stellen Sie sich das konkret vor?
Man müsste die Fächer in den
Lehrplan aufnehmen, als normalen Teil des Unterrichts, der auch Schweizer
Schülern offensteht. Natürlich wäre zu klären, wie viele Stunden es braucht und
für wen sie obligatorisch sind. Und man müsste prüfen, ob die betroffenen
Kinder in anderen Fächern entlastet werden können. Ein Schüler türkischer
Herkunft etwa sollte erst die eigene Sprache beherrschen, bevor er neben
Deutsch noch Englisch und Französisch lernt. Sonst kann er zuletzt alles gleich
schlecht.
Viele Migrantenkinder können kaum Deutsch, Sie
wollen nun die Muttersprache stärken. Stimmt dieser
Ansatz?
Man darf das eine nicht gegen
das andere ausspielen. Studien zeigen, dass das Erlernen einer zweiten Sprache
auf einer guten Kenntnis der Erstsprache beruht. Wenn Kinder also ihre
Muttersprache beherrschen, lernen sie auch einfacher Deutsch.
Fördert der Unterricht in der Muttersprache
nicht mehr die Abschottung als die Integration?
Auch hier besteht eine
Wechselwirkung. Integration heisst nicht, dass man die eigene Kultur aufgibt.
Vielmehr erleichtert die Verankerung in der eigenen Kultur den Schritt in eine
zweite. Die Kinder sind stabiler und offener, sie fühlen sich weniger zwischen
alter und neuer Heimat hin und her gerissen. Das grösste Hindernis für die
Integration ist das Gefühl, zwischen Stuhl und Bank zu rutschen und weder zur
Schweiz noch zum Land der Eltern zu gehören.
Ihre Ideen sind kostspielig. Die Kantone werden
keine Freude haben.
Wenn man das Gesamtbild betrachtet, wird die Rechnung schnell positiv.
Mehrsprachigkeit ist ein Gewinn und öffnet Perspektiven in Ausbildung und
Karriere. Natürlich werden Kantone und Schulen jammern. Das Geld ist an der
Schule aber besser investiert, als wenn der Staat später schlecht ausgebildete
Schüler durch Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe begleiten muss. Wir sollten in
die Zukunft investieren, nicht Defizite verwalten.
Wieso muss der Staat das Angebot finanzieren?
Eine Beteiligung der Herkunftsländer ist natürlich erwünscht. Auch
Eltern sollten, wo dies möglich ist, ihren Beitrag leisten.
Ist die Schule das richtige Versuchsfeld für
Integrationsprogramme? Müsste nicht primär und stärker die Wissensvermittlung
im Vordergrund stehen?
Wer soll die Aufgabe sonst übernehmen? Natürlich muss man die Eltern in
die Pflicht nehmen, die leider vielfach Erziehungsaufgaben vernachlässigen.
Ebenso braucht es Betreuung und Beratung. Die Schulen haben aber eine zentrale
Funktion bei der Integration, ob sie wollen oder nicht. Wir müssen sie dabei
noch stärker unterstützen. Es wäre zum Beispiel gut, wenn noch mehr Lehrer mit
Migrationshintergrund unterrichten würden. Sie kennen die Probleme und können
ausländischen Schülern ein Vorbild sein. Dasselbe gilt übrigens für alle
staatlichen Institutionen. Dass Migranten dort Karriere machen, ist leider noch
die Ausnahme.
Kann die Schule das alles leisten, ohne dass die
Qualität für die einheimischen Schüler sinkt?
Diese Frage kommt immer wieder. Die Erfahrung ist unterschiedlich. Es
gibt Schulen, wo die Durchmischung die Lehrer zu Höchstleistungen anspornt, von
denen auch die einheimischen Schüler profitieren. Aber es gibt natürlich auch
andere Fälle. Ich wünschte mir, die Schulen wären etwas flexibler. Lehrer
müssen ja nicht mit allen Schülern dasselbe machen, sie könnten unterforderte Schüler
speziell fördern. Mit engagierter Pädagogik liesse sich viel bewirken –
vorausgesetzt, die Schule und die Politik bieten die nötige Unterstützung.
Dann könnte man ja gleich separate Klassen einführen.
Auf keinen Fall. Irgendwo muss Integration stattfinden. Eine starre
Trennung wäre verheerend, sie würde die Differenzen vergrössern. Gerade die
Schweiz ist ein Beispiel dafür, dass Durchmischung in der Ausländerpolitik
erfolgreicher ist als eine Ghettoisierung wie etwa in Frankreich.
Verstehen Sie, dass gewisse Eltern fürchten, ihr Kind
lerne in einer Klasse mit hohem Ausländeranteil zu wenig, und darum
Privatschulen suchen?
Es kommt auf die Situation an. Ich würde mir wünschen, dass die Eltern
in solchen Fällen zuerst mit der Schule das Gespräch suchen und vielleicht
selber Verbesserungsmöglichkeiten einbringen. Und dass Schulen mehr Freiheit
und Mittel bekommen, auf die jeweiligen Probleme zu reagieren. Ich stelle fest,
dass durchmischte Schulen wie etwa die International Schools sehr begehrt sind.
Wieso sollten sie es nicht auch im Zürcher Kreis 4 sein?
Sprachunterricht
Finanzkrise gefährdet das Angebot
Allein im Kanton Zürich besuchen mehr als 10 000 Kinder Unterricht in
heimatlicher Sprache und Kultur (HSK), im Rest des Landes kommen noch
Tausende dazu. Sie alle haben ausländische Wurzeln, und ihren Eltern ist es
wichtig, dass diese nicht vergessen gehen. Das Angebot der Kurse reicht von
Italienisch bis Amharisch, je nach Land und Sprache werden sie von privaten
Vereinen getragen oder gleich vom Staat. Italien, Portugal und Griechenland
etwa finanzieren die Kurse über ihre Botschaften und Konsulate.
Wegen der Finanz- und Schuldenkrise sind die Angebote dieser Staaten
nun aber in Gefahr. Italien etwa hat bereits Lehrer entlassen, dank einem
Zuschuss des italienischen Parlaments sind die Kurse immerhin bis Ende Jahr
gesichert. Auch Griechenland baute Personal ab, zudem müssen sich nun auch
die Eltern an den Kurskosten beteiligen. Dasselbe gilt für Portugal, das
überdies durch grössere Klassen Geld spart. Gemeinsam ist allen drei
Gemeinschaften: Was künftig mit dem HSK-Unterricht geschieht, ist offen. «Wir
wissen noch nicht, wie es weitergeht», sagt Marco Tovani vom italienischen
Generalkonsulat.
Angesichts dieser Probleme fordern die Gewerkschaften, dass die Volksschule
wo nötig diese Kurse selber übernimmt und finanziert. Die Kantone haben dafür
allerdings wenig Gehör. «Angesichts der Sparpakete, mit denen sich die
Kantone konfrontiert sehen, werden es entsprechende Vorstösse wohl schwer
haben», antworteten die kantonalen Erziehungsdirektoren im September. Sie
behielten damit bisher recht: Das Zürcher Volksschulamt argumentiert, es
bestehe keine gesetzliche Grundlage für die Übernahme der Kosten. Und die
Basler Regierung hielt kürzlich dazu fest, man sehe nur die Möglichkeit, die
Zusammenarbeit mit den HSK-Trägerschaften weiter zu optimieren.
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Quelle: NZZaS, 28.10.2012